Wandern wie die Großen:
Die Eroberung der Rosszahnscharte
Kann es etwas Schöneres geben, als aufzuwachen und direkt aus dem Bett über die
unendlich scheinende, saftig grüne Wiese, der Seiser Alm, direkt zum teils felsigen Areal
der Seceda-Alm zu schauen?
Kaum. Jedenfalls nicht, wenn man in den Alpen
Urlaub macht.

Die Seiser Alm ist mit ihren 52 Quadratkilometern Europas größte Hochalm.
Zwischen 1.850 und 2.350 Metern gelegen und fast gleichmäßig, dabei aber nur leicht abfallend
bietet die riesige Wiese uns Flachlandtirolern und Gelegenheitswanderern entsprechend
einfache Wanderungen.
So der Plan.
Doch Pläne sind für uns offensichtlich da, um sie zu ändern.
Beziehungsweise
unserer körperlichen und konditionellen Tagesform anzupassen.
So auch heute.
Nach dem das Hotel gebucht war, habe ich noch vor der Reise ganz auf die Schnelle
das halbe Internet nach geeigneten Wanderungen durchforstet. Sie schienen mir aber entweder zu langweilig
oder zu extrem und ungeeignet. Ich dachte: Vor Ort wird es schon Infomaterial geben, aus
dem wir uns etwas auswählen können.
Und wir wurden nicht enttäuscht.
Im Gegenteil. Das Angebot an Wanderungen ist viel zu groß und so beschließen wir
auf einem dieser Wanderwege, die hinter dem Hotel beginnen einfach loszuwandern und
unterwegs operativ zu entscheiden.

Das Hotel Goldknopf
befindet sich bei 2.080 Metern Höhe.
Sehr vorteilhaft.
So sparen wir die Kräfte
und starten dort, wo viele Wanderwege beginnen interessant zu werden.
Kurz nach 10 Uhr sind wir fertig und beginnen unsere Wanderung direkt hinter dem Haus.

# Aufstieg zur Rosszahnscharte
Der Anstieg ist human. Jedenfalls so, dass wir wandern und uns dabei noch unterhalten können. Noch sind wir begeistert vom Weitblick und der klaren Sicht auf den Schlern, dem markantesten Bergmassiv der Seiser Alm. Die zwei turmartigen Spitzen des Santner und Euringer sind zum Wahrzeichen für das gesamte Südtirol geworden.
Es geht einen gut ausgetrampelten doch recht schmalen Weg entlang. Noch bin ich begeistert über die kleinen Blümchen. Sicher kein Blumenteppich wie es den hier im Frühjahr geben soll.
Der Weg 2A (auch Mark 2 bezeichnet) gen Süden führt uns anfangs über feuchte Böden
die beim Auftreten etwas nachgeben.
Über kurze Abschnitte sind auch Stege vorhanden.
Das fühlt sich nach ursprünglicher Natur an!
Im Berliner Raum sind selbst die Waldböden fest wie Beton verglichen mit diesen wolkenweichen Almen.
Wir sind nicht allein unterwegs. Die 2A ist auch Ausgangspunkt für andere Ziele.
Vielleicht werden wir diese Wanderungen noch in den nächsten Tagen machen. Wenn es
das Wetter zulässt. Doch heute zieht es uns zum Fuß der Rosszahnscharte.
Denn den Aufstieg nach oben zu schaffen, ist wohl illusorisch. Der sieht einfach zu steil aus.
Und ist nicht unsere Leistungsklasse.




Vorgenommen haben wir uns ganz fest, nur so weit zu laufen, wie wir es als angenehm
empfinden. Doch jeder Blick nach hinten gibt einen Adrenalinschuss vor Freude, wie
weit wir schon gekommen sind.
Und so gehen wir immer weiter.
Werden von anderen Wanderern überholt.
Manchmal aber überholen wir.
Die Truppe die offensichtlich die Scharte als Ziel hat, ist irgendwann ausgedünnt.
Und ehrlich gesagt, bin ich froh zu sehen, wenn ich nicht die Einzige bin, die
nach Luft ringend auch stehen bleiben muss. Schnell hat man seine
Pappenheimer ausgemacht, die das gleiche Tempo laufen.



Unser Weg wird steiniger. Und steiler.
Immer wieder ringe ich mit dem Gedanken umzukehren.
Doch irgendwie kann ich nicht verlieren und so nehme ich mir vor, zumindest bis zu den
Kehren zu kommen. Mein Angebot an Rainer, einfach weiter zu gehen und mich zurückzulassen, schlägt er mehrfach
ab. Das erzeugt natürlich noch mehr Druck. Ich will nicht diejenige sein, weshalb "wir" es
nicht geschafft haben!

Bevor die letzten elf Kehren zum Greifen nahe sind, erstreckt sich eine Wiese.
Das tut gut. Auf diesem Stück erholt sich unser beider Puls.
Dass der Trainingsring unserer Watch schon längst geschlossen ist, ist ja wohl klar.
Auch der Bewegungsring hat Vollzug gemeldet ✌🏻

Das aller-aller letzte Stück ist schon ziemlich hart. Aber jetzt will ich es wissen.
Die Abschnitte zwischen den Kehren sehen kurz aus. Vielleicht sind sie das auch.
Ich kann es objektiv nicht mehr einschätzen.
Babysteps.
An einer Kehre angekommen, nenne ich mir ein Zeit Ziel bis zur nächsten Kehre. Und freue mich,
wenn ich besser war.
Meine Kondition kratzt an der Grenze.


Aber solche Rückblicke entschädigen:

Nun ist klar, dass ich es schaffen werde.
Rainer dehnt seine Oberschenkelmuskulatur während ich versuche meinen Puls auf gesundem
Niveau zu halten.
Die letzte Kehre ist schnell gelaufen.
Oben anzukommen ist einfach eine Art Selbstbestätigung!
Ja man kann es auch als Flachlandtiroler erklimmen.
Und so schlimm war es dann rückblickend doch nicht.
Dünne Luft macht eben glücklich 😎

Hier oben ist es extrem windig.
Das Foto auf dieser Bank ist ein Muss. Wir befinden uns auf einer Höhe von 2.490 Metern.
Hier erst, überlegen wir, wie wir weiter gehen wollen. Den gleichen Weg zurück oder...?


Wir sind verunsichert. Vor allem ist die Beschilderung der Wege recht sparsam.
Tierser Alpl? - sagt mir etwas. Wir fragen die anderen. Die meisten kennen sich hier aus
und raten uns den langen "Weg über die Mahlknechthütte und dann hoch zur Seiser Alm".
"Runter?" Meine mühsam erwanderten Höhenmeter runter gehen und dann wieder hoch?
Ich will das nicht!
Aber vom steilabfallenden Weg, den wir gekommen sind, rät man uns ab. Zu gefährlich.
Also befolgen wir die Tipps und steigen ab auf der Südseite der Rosszahnscharte. Denn der Blick auf Teile
des Rosengartens ist schon verlockend! und dort einzutauchen muss auch ein gutes Bild abgeben.

Impressionen vom schmalen Kamm:



# Abstieg über Rosengarten
Wir befinden uns im 1974 gegründeten Naturpark Schlern-Rosengarten. Den Namen erhielt der Park nach den markantesten Bergmassiv, den zwei Türmen Santner und Euringer. Erst im Jahr 2003 kam zu den Naturparkgemeinden Kastelruth und Völs am Schlern, Tiers dazu. Tiers gehört zum Rosengartenmassiv.
Auf der Südseite der Rosszahnscharte, direkt unter den "Zähnen" stehend, sehen sie gigantisch aus. Jetzt wird auch dem Letzten klar, warum diese Zacken genau diesen Namen bekamen.

Nach dem es erst steil runter ging, ist der weitere Weg auf gleicher Ebene. Schnell sind wir beide uns einig: Der anfänglich steile Abstieg ist anstrengend. Man hat keinen Halt. Der Weg ist voller Kieselsteine. Jeden Moment denkt man, man rutsch aus. Das geht auf die Knie.
In die Tierser Alpl Hütte (2.440 Meter Höhe) gehen wir nicht. Irgendwie ist uns nicht nach Essen.
Auf der großen Wiese machen wir wie viele andere einfach mal eine Rast und
lassen die Landschaft wirken. Es ist die Felskulisse des Tierser Alpls,
die nördlichsten Gipfel des Rosengartens.
Es ist traumhaft hier.



Vor uns befindet sich das Massiv Plattkofel & Langkofel.
Irgendwie erinnert mich dieses Gebilde an einen Kohlkopf.

Der weitere Weg nach unten ist landschaftlich unbeschreiblich schön. Egal ob man
noch vorn, zur Seite oder nach hinten schaut.
Die Neigung ist moderat. Doch definitiv anstrengender als nach oben.
"Gravel road" würde ich es nennen. Und das dauernde abbremsen mit den Knien ist ätzend.
Wenn ich wüsste, dass ich unten sicher zum Stehen komme, würde ich mit großen Schritten
laufen. Fast Joggen. Aber das ist mir zu unsicher. Es ist noch ein langer Weg, der vor uns liegt.
Wir sind praktisch auf der anderen Seite des Rundweges.



Den letzten Teil der Wanderung kann man fast schon als Spaziergang bezeichnen.
Linkerhand begleiten uns allgegenwärtig die Ausläufer der Rosszähne.
Unvorstellbar, dass wir noch vor nicht einmal einer Stunde irgendwo da oben waren.
Das angesagte nachmittägliche Gewitter ist glücklicherweise bisher ausgeblieben.
Nur vereinzelte Quellwolken tauchen auf. Das tut gut. Die geben Schatten.

Wir halten uns links. Der einfache Weg nach rechts ist zwar verlockend, würde uns aber
nach Saltria führen. Es ist der Ausgangspunkt für viele Wanderungen zum Platt- und Langkofel.
Doch dafür hätten wir früher aufstehen und die Wanderung früher starten sollen.
Für heute reicht mir das.




Es geht jetzt noch einige Male sehr steil nach oben. Die Beine haben sich daran gewöhnt und sind "eingelaufen". Nicht dass es leichter ist. Aber will ich heute in einem Bett schlafen, so muss ich weiter 😉

Als wir die Mahlknechthütte sehen, atmen wir auf.
Jetzt haben wir den Rundweg fast geschafft. Es trennen uns etwa zwei Kilometer vom Ziel.
Auf der Wiese suchen wir uns einen Platz und picknicken. Brot, Käse und Wurst.
Zeit zum Durchatmen und Landschaft genießen.



Ab hier begegnen wir vielen Spaziergängern. Einige sind mit Kinderwagen unterwegs. Einige mit Fahrrädern. Ist eben ein familienfreundlicher, einfacher und breiter Weg. Und auch der kann sich ziehen.
Es ist schon eine Erlösung, als ich am Horizont unser Hotel Goldknopf
sehe. Jetzt kann es anfangen zu regnen oder gewittern. Mir egal!
Es sind nur noch wenige Schritte bis...
Nö. Um jetzt schon ins Hotel zu gehen, ist es zu früh.
An dem großen Naturpool und Wasserspeicher, steht die Edlweiß Hütte.
Die Sitzbänke vor der Hütte sind schon einladend. Aber noch besser sind die
Drehliegen aus Holz. Die stehen auf einer Anhöhe. Was will man mehr?
Die Antwort ist ganz einfach: Radler auf die vertrockneten Kehlen!


Die Hütte liegt an einer Hauptader hier auf der Seiser Alm.
Wir beobachten recht viele E-Biker, die hier rasten.
Rainer beschließt, dass wir uns morgen zur Abwechslung Pedelecs ausleihen.
"Da müssen wir nicht immer laufen, sondern können sitzen".

Den offiziellen Weg zum Hotel schenken wir uns.
Wir nehmen den Shortcut über die Wiese. Der ist zwar sehr steil - aber steil haben wir
ja den ganzen Tag geübt 😉

Frisch gemacht setzen wir uns auf den Balkon und werten die Wanderung aus.
Eigentlich gar nicht so schlecht. Der Rundwanderweg ist mit 4.5 Stunden angesetzt.
Das haben wir nur um eine Stunde verpasst. Wir sind mit uns zufrieden!

Beflügelt vom sportlichen Tag, bestellt Rainer zwei E-Bikes im Sportgeschäft in Compatsch. Für acht Euro bringt man uns die Räder noch heute hoch auf die Alm und stellt sie in die Garage. Welch ein Service!
Das heutige Dinner starten wir schon kurz vor 19 Uhr.
Das ist wieder exzellent!
Und dazu gibt es köstlichen Sauvignon Blanc.
Unsere Serviererin ist genau wie die Chefs sehr freundlich. Als sie fragt,
wie wir den Tag verbracht haben, können wir ganz stolz sagen:
"Wir waren auf der Rosszahnscharte" - yeah 🤙🏼





Noch bevor wir fertig sind, wird es draußen extrem windig. Da schießt schon
ein Kleidungsstück am Fenster des Restaurants vorbei.
Uuups...
Rainer flitzt schnell hoch, denn auch wir haben unsere Wanderkleidung zum Trocknen draußen auf den
Stühlen des Balkons aufgehangen. Glücklicherweise sind unsere Sachen noch alle da.
Als wir oben ankommen, beobachten wir das Wetter-Schauspiel aus dem Zimmer.
Gruselige Wolken hängen über der Seceda.
Der Schlern hat es schon überstanden.
Denken wir. Denn etwas später kommt das richtige Unwetter. Es blitzt. Es donnert und regnet
fürchterlich stark.


So war Tag 1 auf der Seiser Alm